Keine Wärmewende ohne Gas

Rohrleitungsbauverband

Keine Wärmewende ohne Gas

5. Juli 2022

Keine Wärmewende ohne Gas

rbv – Umbau und Erhalt des Gasnetzes ist alternativlos

Bei dem rund 550.000 Kilometer langen Gastransport- und -verteilnetz der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich um ein über Jahrzehnte gewachsenes höchst wertvolles infrastrukturelles Asset. Auch für die Transformation des Energiesystems in Richtung Klimaneutralität ist dieses Leitungsnetz ein unverzichtbarer Baustein. Aktuell ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Leistungsspektrum dieses Netzes für eine erfolgreiche Umsetzung der Energie- und Wärmewende nun endlich von allen relevanten Entscheidern erkannt wird und hieraus die richtigen energiepolitischen Schlüsse gezogen werden. Im Schulterschluss mit weiteren Branchenverbänden arbeitet der Rohrleitungsbauverband e. V. (rbv), Köln, mit daran, auf die außerordentliche Leistungsfähigkeit des Gasnetzes für den Transport klimaneutraler Gase aufmerksam zu machen, damit in der aktuell aufgeheizten politischen Debatte vernünftige Weichenstellungen für eine erfolgreiche Dekarbonisierung unseres Energiesystems und für eine dauerhaft bezahlbare und sichere Versorgung vorgenommen werden.

Brauchen wir es zukünftig noch oder brauchen wir es tatsächlich langfristig nicht mehr? Bei dieser Frage geht es um das über 500.000 Kilometer lange Gasnetz, mit dem rund 1,8 Millionen Industrie- und Gewerbekunden mit Energie sowie rund 50 Prozent aller Haushalte mit Wärme versorgt werden. „Nicht zuletzt mit dem Krieg in der Ukraine und der infolge dieser globalen Krisensituation geforderten Emanzipation von Gaslieferungen aus Russland wird hierzulande die Zukunftsfähigkeit des deutschen Gasnetzes kritisch hinterfragt“, beschreibt rbv-Hauptgeschäftsführer Dipl.-Wirtsch.-Ing. Dieter Hesselmann die aktuelle Situation. „Der politischen Argumentation fehlt es nach unserer Einschätzung aber derzeit an einem der komplexen Thematik angemessenen technischen Sachverstand. Hier sehen wir alle Verbände des Leitungsbaus und der Energiewirtschaft sehr klar in der Pflicht, unaufhörlich zu mahnen, dass ein nachhaltiger Ausbau und Erhalt sowie eine technische Transformation der Gasnetze alternativlos sind, um das für 2045 politisch formulierte Ziel der Treibhausgasneutralität zu erreichen“, so Hesselmann. Dieses Klimaschutzziel sei aber nur in dem definierten Zeitrahmen realisierbar, wenn alle relevanten Technologien und Optionen diskriminierungsfrei eingesetzt würden. „Wasserstoff und den Gasinfrastrukturen hierzulande kommt in diesem Zusammenhang eine unverzichtbare Bedeutung zu“, so die in Richtung politischer Akteure formulierte Forderung.

Falsche Signale aus der Politik

Problematisch in diesem Zusammenhang war bereits die Richtung, die im Koalitionsvertrag der amtierenden Bundesregierungen für den Gebäudesektor eingeschlagen wurde. Unter dem Thema „Klimaschutz im Gebäudebereich“ sieht der Vertrag vor, dass mit einer beabsichtigten Änderung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) zum 1. Januar 2025 jede neu eingebaute Heizung auf Basis von 65 Prozent erneuerbarer Energien betrieben werden muss. Schon mit dieser vertraglichen Festlegung wird eine deutliche Absage an die Gasheizung vorbereitet und damit langfristig auch an die bestehenden Gasinfrastrukturen, denen im Zusammenhang mit der Nutzung von Wasserstoff oder klimaneutralen Gasen aus politischer Richtung keine aktive Rolle für den Gebäudesektor mehr zugewiesen wird. Dramatisch zugespitzt hat sich die Situation im Mai 2022 durch Äußerungen von Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, der im Rahmen einer Stadtwerke-Tagung in Berlin Energieversorger dazu aufgefordert hat, mit dem Rückbau ihrer Gasnetze zu beginnen, da diese nicht mehr zukunftsfähig seien. Graichen habe – nach Angaben der Wochenzeitung WELT AM SONNGAG – darauf hingewiesen, dass der Betrieb einzelner Heizungen mit klimaneutralem Wasserstoff als Erdgasersatz eine „Träumerei“ sei. „Dies ist ein politisches Statement, das von höchster Unkenntnis eines komplexen technischen Sachverhalts zeugt, und dem unsere Branche deshalb mit aller Entschlossenheit entgegentritt“, so rbv-Präsident Dr. Ralph Donath. „Energiepolitisch befinden wir uns an einem Scheideweg historischen Ausmaßes. Denn wenn wir nun damit beginnen, ein Netz zurückzubauen, dessen Wiederbeschaffungswert bei mehreren hundert Milliarden Euro liegt, vernichten wir nicht nur eines der größten Anlagevermögen unseres Landes. Mit Blick auf einen möglichen Transport klimaneutraler Gase verspielen wir damit auch die Option auf eine erfolgreiche Dekarbonisierung unserer Gesellschaft und auf ein Gelingen der Energie- und Wärmewende. Wir gefährden die Zukunft kommender Generationen.“ Harsche Kritik kommt auch aus den Reihen weiterer Verbände. Der Präsident des Deutschen Gas- und Wasserfaches e. V. (DVGW), Bonn, Michael Riechel, kommentiert das Statement Graichens in aller Deutlichkeit: „Die Aussagen sind an Dreistigkeit und Ignoranz nicht zu überbieten. Die Stadtwerke jetzt aufzufordern, den Rückbau der Gasnetze zu planen, ist grob fahrlässig. Es ist bei den Technologien, die wir künftig nutzen sollten, keine Frage des Entweder-Oder, sondern von Sowohl-als-Auch. Nur wenn wir alle Technologieoptionen nutzen – das heißt Wärmepumpe, Fern- und Nahwärmenetze, H2-ready Gaskraftwerke und klimaneutrale Gase in den Bereichen Wärme, Industrie und Verkehr – werden wir die Energie- und Klimawende rechtzeitig schaffen und bezahlbar gestalten.“ Mit Blick auf die politisch favorisierte Elektrifizierung der Verbrauchssektoren – die sogenannte all electric world – weist der DVGW schon seit längerem darauf hin, dass diese zu erkennbaren Nachteilen bei der Versorgungssicherheit führen werde und auch sozialpolitisch gravierende Auswirkungen habe. Eine Elektrifizierung der Endverbrauchersektoren sollte daher nur in Maßen verfolgt werden. Und auch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW), Berlin, widerspricht den Äußerungen Graichens. „Ein Rückbau der Verteilnetze zum jetzigen Zeitpunkt wäre vor allem mit Blick auf die Vielzahl dort angeschlossener Gewerbe- und Industriekunden absolut kontraproduktiv“, sagte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae. Die Netze seien ein essenzieller Bestandteil „unseres zukünftigen Energiesystems“. Ziel müsse es sein, „jetzt Schritt für Schritt Erdgas durch Wasserstoff und andere klimaneutrale Gase zu ersetzen“, so Andreae.

Transformation der Netze

„Es geht uns nicht um ein „Weiter-so“ oder um ein Festhalten an einem historisch gewachsenen Netz“, bekräftigt Hesselmann. Im Gegenteil: die ganze Branche arbeitet mit hoher Intensität an der Entwicklung zukunftsfähiger Transformationspfade, um das ökologische und technische Potenzial von Wasserstoff zeitnah abzurufen und auch im Wärmemarkt eine nachhaltige Einsparung von CO2 auf der Basis klimaneutraler Gase zu adressieren. Derzeit deuten Labor-Experimente und theoretische Analysen darauf hin, dass eine Wasserstoff-Beimischung von bis zu 20 Volumenprozent in bestehende Gasleitungen einen auch weiterhin sicheren technischen Betrieb dieser Infrastrukturen sowie haustechnischer Anlagen zulässt. In Feldtests prüfen der DVGW und der Energieversorger Avacon aktuell, ob diese Kennziffern tatsächlich auf den Gerätebestand übertragbar sind. Dafür wurde Ende Dezember 2021 die Wasserstoff-Beimischanlage in Schopsdorf (Sachsen-Anhalt) offiziell in Betrieb genommen. Hier werden in einem Teilnetz im Raum Fläming dem Erdgas in den kommenden Heizperioden stufenweise bis zu 20 Prozent Wasserstoff zugefügt. Das Projekt soll zeigen, dass es technisch möglich ist, Wasserstoff zu einem deutlich höheren Prozentsatz als bislang in den Technischen Regeln des DVGW vorgesehen, in ein existierendes Gasnetz einzuspeisen. Die Ergebnisse des Projektes dienen als Vorbild für den zukünftigen Einsatz von Wasserstoff in Gasverteilnetzen. (Quelle: DVGW: https://bit.ly/3L2Izuz). Verschiedene Branchenakteure nehmen derzeit angesichts der aktuellen Entwicklungen auch einen Wasserstoffanteil von 100 % ins Visier weiterführender Überlegungen.

Ist der Bedarf an Wasserstoff gesichert?

Aber ist langfristig überhaupt genug Wasserstoff verfügbar? Diese Fragestellung untersucht eine im Auftrag des DVGW durchgeführte Studie von Frontier Economics, die in verschiedenen Szenarien die mittel- und langfristige Verfügbarkeit klimaneutraler Gase ermittelt hat. Die Erhebung kommt zu dem Ergebnis, dass entgegen vieler Annahmen Wasserstoff keine Mangelware bleiben muss. Bereits ab dem Jahr 2030 kann der Bedarf mehr als gedeckt werden. Nach Angaben der Studie stehen dann rund 290 Terawattstunden (TWh) CO2-armer bis klimaneutraler Wasserstoff zur Verfügung. Etwa 60 Prozent davon wären grüner Wasserstoff aus heimischer Elektrolyse und anderen europäischen Ländern. Diese Menge übertrifft um ein Vielfaches alle gängigen Nachfrageprognosen. So geht der Nationale Wasserstoffrat für diesen Zeitraum von einem Bedarf von bis zu 110 TWh aus. Bis 2045 könnten Industrie, Fahrzeuge sowie Gebäude dann mit einer Energiemenge von 850 TWh versorgt werden. Durch den Import von grünem Wasserstoff beispielsweise aus Ländern Nordafrikas wäre auf lange Sicht sogar ein Angebot von etwa 2.000 TWh denkbar. Dies entspricht mindestens dem Doppelten der Energie, die im klimaneutralen Deutschland der Zukunft benötigt wird. Somit könnten über die deutschen Verteilnetze ausreichende Mengen für alle Sektoren zur Verfügung stehen – für die Industrie und auch für die über 20 Millionen Haushalte, die heute mit Gas heizen.

Und einen weiteren wichtigen Aspekt bringt die Studie deutlich zum Ausdruck. Entgegen den Festlegungen des aktuellen Koalitionsvertrages, der für den privaten Wärmemarkt keine Nutzung von Wasserstoff mehr vorsieht, zeigen die Ergebnisse, dass auch für den Gebäudesektor deutliche Vorteile in einer ausbilanzierten, gemischten Strategie erkennbar sind. Denn auch im Gebäudesektor könnten klimafreundliche Gase wirtschaftlich eingesetzt werden, da die langfristigen Herstellungskosten von grünem Wasserstoff von aktuell 25 bis 30 Cent pro Kilowattstunde auf fünf bis sieben Cent im Durchschnitt im Jahr 2045 – so die Annahme – sinken könnten. Auch vor diesem Hintergrund erscheint die aktuelle Fokussierung auf eine Direktelektrifizierung und Sanierung als wenig zielführend.

Die Studie steht hier zum Download bereit:
https://bit.ly/35ddqo8

Werte erhalten – Zukunft gestalten

Gase und die Gasinfrastruktur bilden das Rückgrat der Versorgung unserer Gesellschaft mit Energie, Strom und Wärme. Das wird sich auch zukünftig nicht ändern. Die Leitstudie der Deutschen Energie-Agentur (dena) „Aufbruch Klimaneutralität“, kommt zu dem Schluss, dass Deutschland aus Gründen der Bezahlbarkeit, der Versorgungssicherheit und des Klimaschutzes auch künftig auf Gas angewiesen sein wird, sowohl in der Strom- als auch der Wärmeversorgung. „Im Gesamtkontext dieses thematischen Umfeldes sehen wir für den rbv derzeit zwei wesentliche Handlungsdirektiven“, beschreibt Donath das aktuelle Agenda-Setting des Verbandes. „Zum einen stehen wir in der Pflicht, der an dieser Stelle massiven politischen Unkenntnis mit unserem technischen Sachverstand und unserem Grundverständnis eines sektorenübergreifenden, integrierten Energiesystems entgegenzutreten. Vor diesem Hintergrund treffen sich BDH, Bundesverband Kraft-Wärme-Kopplung, DVGW, figawa, Zukunft Gas, der Zentralverband Sanitär, Heizung, Klima und rbv regelmäßig, um sich über das Thema „Effizienz im Wärmemarkt“ auszutauschen und sinnvolle Maßnahmenkombinationen zu evaluieren. Zum anderen begleiten wir als Verband alle für den Leitungsbau relevanten Praxisaspekte der H2-Readiness von Leitungssystemen, um hier im Sinne unserer Mitgliedsunternehmen aktiv an einer praxisaffinen Gestaltung baulicher Rahmenbedingungen mitzuwirken“, so Donath. „Das sind wahrlich große Aufgaben, für die sich unsere Branche gemeinsam stark macht“, resümiert der rbv-Präsident.